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29. April 2000 — 60 Jahre

Helmut Sackers war 60 Jahre alt als er am 29. April 2000 von einem neonazistischen Skinhead erstochen wurde.

 

Wer war Helmut Sackers?

Helmut Sackers, Kaufmann aus Kleve (Nordrhein-Westfalen) und Sozialdemokrat, hatte wenige Tage vor seinem Tod in Halberstadt seinen 60. Geburtstag gefeiert. Seine damalige Lebensgefährtin beschreibt Helmut Sackers als einen couragierten Menschen, der viel diskutiert und an Toleranz und Demokratie geglaubt hat. „Für diese Werte hat Helmut Sackers sein Leben gelassen“, so die Angehörigen.

 

Was ist passiert?

Am Abend des 29. April 2000 um 22 Uhr ging ein Notruf von Helmut Sackers bei der Polizei in Halberstadt ein: „Bei uns im Haus werden Nazilieder gespielt, Horst-Wessel-Lied, ganz laut.“ Die Beamten, die daraufhin zu dem Plattenbau kamen, in dem Helmut Sackers mit seiner Lebensgefährtin wohnte, gaben später zu Protokoll, dass die Musik dort zwar laut, die Texte aber nicht verständlich gewesen seien. Während eines Gesprächs mit dem 29-jährigen Wohnungsinhaber habe Helmut Sackers sich eingemischt: „Spielst Du noch einmal Nazilieder, erstatte ich Anzeige!“ Danach sei Helmut Sackers in die Wohnung seiner Lebensgefährtin zurückgekehrt und der Einsatz der Polizei beendet gewesen.

Eine Stunde später war Helmut Sackers tot, er verblutete an vier Messerstichen, die ihm von dem 29-Jährigen zugefügt worden waren, im Treppenhaus des Plattenbaus. Seit Anfang der 1990er Jahre gehörte der spätere Angeklagte, der am Tatabend ein Shirt der Neonaziband „Blue Eyed Devils“ trug, zur neonazistischen Szene in Halberstadt, die sich bis 1996 in einem städtischen Jugendclub traf. Obwohl bei ihm über 80 zumeist indizierte CDs mit neonazistischen Kampfliedern u.a. von „Landser“ und „Freikorps“, Dutzende von Kassetten und Videos aus Produktionen des im gleichen Jahr verbotenen Neonazinetzwerks „Blood&Honour“ sowie 90 Hefte mit Neonazi-Propaganda gefunden wurden, wurde die Tat von Polizei und Staatsanwaltschaft als „Nachbarschaftsstreit“ dargestellt.

 

Die Prozesse gegen den Täter

Der erste Prozess im November 2000 vor dem Landgericht Magdeburg endete völlig überraschend mit einem Freispruch wegen Notwehr. Während die Verlobte des Angeklagten unmittelbar nach der Tat gegenüber Polizei und Haftrichter ausgesagt hatte, dass sie von der Situation auf der Treppe nichts mitbekommen und in der Wohnung ihres Freundes gewartet habe, trat sie vor Gericht plötzlich als Zeugin auf. Sie erklärte, dabei gewesen zu sein, als Helmut Sackers ihren Partner im Hauseingang erst beleidigt, dann seinen Hund auf das Paar gehetzt und schließlich den 30 Jahre jüngeren Mann gepackt habe, um ihn die Kellertreppe hinunterzustoßen. „In Todesangst“ habe ihr Verlobter daraufhin zum Messer gegriffen und zugestochen: in die Wade, in den Magen, in die Brust und unterhalb der Achsel.

Der daraufhin von der Familie Helmut Sackers beauftragte Anwalt legte Rechtsmittel beim Bundesgerichtshof ein, mit Erfolg. Sein Fazit: Das Landgericht Magdeburg habe die Notwehrsituation nur konstruieren können, weil die politischen Hintergründe ausgeklammert blieben. Im Prozess sei das Opfer zum Täter, ein neonazistischer Skinhead zum „netten Jungen von nebenan“ geworden.

Am 31. August 2004, vier Jahre nach der Tat, begann vor dem Landgericht Halle der zweite Prozess. Auch hier hielt der Angeklagte an seiner Version fest, die erneut durch seine nunmehr Ehefrau bezeugt wurde. Sieben Monate später plädierte die Staatsanwaltschaft Halle auf Verurteilung zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Der erneute Freispruch des Angeklagten war aufgrund der akribischen Prozessführung mehr als überraschend, zumal der Richter selbst im mündlichen Urteil dem Angeklagten zahlreiche Falschbehauptungen nachwies und die Zivilcourage Helmut Sackers würdigte.

So stellte das Gericht u.a. fest, dass nicht Helmut Sackers seinem Nachbarn wie behauptet einen Kopfstoß versetzt, sondern dieser dem Rentner durch zwei Faustschläge Kiefer und Nase gebrochen hatte. Verschwiegen hätten der Angeklagte und seine Ehefrau, dass sie Helmut Sackers kurz vor den tödlichen Messerstichen im Treppenhaus getroffen hatten und der Naziskinhead den 60-Jährigen gefragt hatte, ob er Kommunist sei. Auch hätten beide verheimlicht, dass sie nach dieser Begegnung noch einmal in die Wohnung gingen und der 29-Jährige seine Lonsdale-Jacke holte, in der sich die Tatwaffe befand. Anders als das Landgericht Magdeburg stellte die Kammer keine Notwehr fest, hielt es jedoch für möglich, dass der Angeklagte die Grenzen der Notwehr aus Furcht überschritten habe.

Der zweite Freispruch schlug bundesweit hohe Wellen. Als „skandalös“ kritisierte u.a. der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) das Urteil und bescheinigte dem Landgericht Halle eine „eigentümliche Auffassung von Zivilcourage“. Das Urteil wurde rechtskräftig. „Wir haben nach den bisherigen Erfahrungen einfach keine Kraft und kein Vertrauen in die Justiz mehr“, erklärten die Angehörigen von Helmut Sackers angesichts des erneuten Kostenrisikos den Verzicht darauf, erneut Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

 

Öffentliches Gedenken

Am 14. Todestag, dem 29. April 2014, fand erstmals ein öffentliches Gedenken an Helmut Sackers statt. Rund 60 Menschen folgten einem Aufruf der „Initiative für ein würdiges Gedenken an Helmut Sackers“, die von jungen Antifas aus der Harzregion gegründet worden war. Die Teilnehmer*innen versammelten sich zunächst am Tatort in der Wolfsburger Straße 48 in Halberstadt, wo inzwischen nichts mehr an den mittlerweile abgerissenen Plattenbau erinnert, in dem der 60-Jährige erstochen wurde. Anschließend liefen sie in einem Gedenkzug zum Städtischen Friedhof zu Helmut Sackers Grab. Langfristiges Ziel der Initiative und ihrer Unterstützer*innen ist es, in enger Abstimmung mit der ehemaligen Lebensgefährtin von Helmut Sackers, einen öffentlichen Gedenkort in Halberstadt zu schaffen.

 

Helmut Sackers wird von der Landesregierung nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.