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Interview mit Razak Minhel, Geschäftsführer des Multikulturellen Zentrums Dessau, zum 14. Todestag von Alberto Adriano

Herr Minhel, Sie haben in Dessau gelebt, als Alberto Adriano ermordet wurde. Wie würden Sie die Situation für ehemalige Vertragsarbeiter und Flüchtlinge in Dessau vor dem Mord beschreiben?

Ich kannte Alberto Adriano schon zu DDR-Zeiten. Wir haben uns damals regelmäßig im Stadtpark zum Spielen mit unseren Kindern getroffen. Er war ein sehr netter, höflicher, freundlicher und ruhiger Mensch. Manchmal kam mir Alberto Adriano fast schüchtern vor.

Vor der Wende hatten Migranten in Dessau eher ein ruhiges Leben. Ich selbst bin als Student aus dem Irak in die DDR gekommen und habe nach meinem Ingenieursstudium in einem Betrieb gearbeitet. Rechtsextremismus war für mich bis zur Wende nicht sichtbar. Aber wir waren ja auch eher getrennt von der Bevölkerung. Vor allem Vertragsarbeiter aus Angola, Mosambik und Vietnam haben ja zudem in getrennten Wohnheimen gelebt. Ich selbst hatte Glück, weil ich gemeinsam mit deutschen Arbeitern in einem Wohnheim leben konnte. Was wir damals nicht wussten: Das Wohnheim stand auf dem Gelände einer im Nationalsozialismus abgebrannten jüdischen Synagoge. Jetzt wird es auch wieder von der jüdischen Gemeinde genutzt.

Bei den Montagsdemonstrationen in Dessau habe ich dann zum ersten Mal den Slogan „Ausländer raus“ laut auf den Straßen Dessaus gehört. Und nach der Wende habe ich das erste Mal richtige Neonazis auf den Straßen der Stadt gesehen: das kannte ich vorher nur aus dem Fernsehen: die typische Kleidung von Naziskins, Springerstiefel, Glatzen, die Parolen. Wir – eigentlich alle Migrant*innen – hatten große Angst.

Vor dem Mord an Alberto Adriano wurde die allgegenwärtige neonazistische Gewalt völlig verharmlost. Die Täter wurden meistens als dumme Jungs bezeichnet, ihre Ideologie heruntergespielt und es gab keine angemessenen Reaktionen auf ihre Angriffe und Gewalttaten. 1998 zog dann die Deutsche Volksunion (DVU) mit über 12 Prozent der Stimmen in den Landtag von Sachsen-Anhalt ein – das hat das Selbstbewusstsein der Neonazis noch einmal verstärkt.

Wie verliefen die Tage unmittelbar nach dem Mord an Alberto Adriano?

Alberto Adriano starb ja zwei Tage nach dem Angriff durch die drei Naziskins. Wir als seine Freunde und Bekannte – vor allem ehemalige Vertragsarbeitnehmer – waren völlig fassungslos und schockiert. Direkt nach dem Mord gab es eine große Demonstration von Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen mit 5.000 Teilnehmenden in Dessau. An der Spitze der Demo liefen die Freunde und Freundinnen von Alberto Adriano und der damalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner (SPD).

Und was hat sich nach dem Mord geändert?

Unter den Migrant*innen haben wir einerseits mit einer besseren Vernetzung reagiert. In Dessau gründeten sich mehrere Migranteninitiativen und wir haben ganz öffentlich darüber diskutiert, wie wir uns besser selbst verteidigen und schützen können. Andererseits haben viele – vor allem Schwarze Menschen – aus Angst vor weiteren Angriffen die Stadt verlassen. Hinzu kam, dass die Stadtverwaltung keineswegs angemessen reagierte, sondern vor allem darauf verwiesen hat, dass die Täter ja nicht aus Dessau, sondern aus Wolfen und dem Umland kamen.

Der Mord an Alberto Adriano gilt ja auch als einer der Auslöser dafür, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Sommer 2000 den so genannten „Aufstand der Anständigen“ ausgerufen hat. Und die damalige rot-grüne Bundesregierung hat dann im Herbst 2000 das erste Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus ins Leben gerufen, durch das unter anderem der Aufbau der Opferberatungsstellen finanziert wurde. Diese Projekte gab es ja vorher nicht.

Wie würden Sie die Situation in Dessau heute beschreiben?

Obwohl Dessau-Rosslau und die Region immer noch zu den Schwerpunktregionen rechter und rassistischer Gewalt gehören, gibt es von Seiten der Kommune noch nicht einmal eine symbolische Unterstützung für die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt oder für andere Projekte, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen. Bis heute hat Dessau noch kein kommunales Integrationskonzept – da vermisse ich das Engagement der Stadt. Die Zivilgesellschaft und die Migrantenorganisationen arbeiten dagegen sehr gut zusammen – das hat sich wirklich in den mehr als zehn Jahren seit dem Tod von Alberto Adriano positiv verändert.

Der Mord an Alberto Adriano, aber auch der Tod von Oury Jalloh in der Zelle im Polizeirevier von Dessau im Januar 2007 und die NSU-Mordserie bleiben offene Wunden. Man muss sich einfach vor Augen führen, dass der NSU seinen ersten Mord an dem Blumenhändler Enver Şimşek bei Nürnberg nur knapp acht Wochen nach dem Mord an Alberto Adriano verübte. Zu den offenen Wunden gehört auch, dass die Familie von Alberto Adriano bis heute traumatisiert ist und unter den Folgen des Verlustes ihres Ernährers nach wie vor sehr leidet.

Das Multikulturelle Zentrum gehört seit vielen Jahren zu den Organisatoren des „Tags der Erinnerung“, mit dem Alberto Adriano gedacht wird. Was planen Sie am 11. Juni 2014?

Um 15 Uhr laden wir alle zum Tatort in den Stadtpark ein, wo unter anderem die Landtagsvizepräsidentin und der Oberbürgermeister sprechen werden. Der “Tag der Erinnerung” ist wirklich seit vielen Jahren eine gemeinsame Initiative, die ohne die Unterstützung der Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt, von Miteinander e.V., des Alternativen Jugendzentrums Dessau und vieler anderer nicht möglich wäre. Danach folgt eine Lesung aus dem Buch „Schmerzliche Heimat“ von Semya Şimşek, der Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek. Anschließend gehen wir zu dem Park vor dem Dessauer Hauptbahnhof, wo wir an Hans-Joachim Srbzesny erinnern, der dort am 1. August 2008 ermordet wurde. Hier spricht dann Kirchenpräsident Joachim Liebig. Und um 17 Uhr eröffnen wir die Ausstellung „ Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ , die vom 12. bis 24. Juni 2014 mit einem Begleitprogramm im Multikulturellen Zentrum öffentlich gezeigt wird.

Vielen Dank für das Gespräch.