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Obdachloser, Quedlinburg
5. Mai 1994 — 43 Jahre

Der 43-jährige Eberhart Tennstedt ertrank am 5. Mai 1994 nachdem er von drei jungen Männern drangsaliert und in einen kalten Fluss getrieben wurde.

 

Wer war Eberhart Tennstedt?

Eberhardt Tennstedt lebte in Quedlinburg (Harz) schon lange Zeit auf der Straße. In der Nacht vom 5. Mai 1994 wurden er und ein weiterer Obdachloser von drei jungen Männern drangsaliert und in einen kalten Fluss getrieben. Der 43-Jährige ertrank. Zu dem Menschen Eberhart Tennstedt ist leider lediglich bekannt, dass er an einer chronischen Alkoholkrankheit litt.

 

Was ist passiert?

Seit einigen Tagen hielten sich Eberhardt Tennstedt und sein ebenfalls obdachloser Bekannter gern stundenlang an zwei Bänken am Kiosk „Am Schiffsbleek“ an der Bode auf, zum zunehmenden Missfallen des Besitzers. Der 27-Jährige fand, sie würden seinen Betrieb stören. Als er am 5. Mai 1994 kurz nach Mitternacht zufällig auf drei augenscheinlich Rechte traf, von denen er einen flüchtig kannte, bot er ihnen ein paar Büchsen Bier an, wenn sie „die Penner“ aus dem Kioskbereich vertrieben.

Daraufhin fuhren die drei Männer im Alter von 20 bis 22 Jahren mit dem Auto Richtung Kiosk. Dort trafen sie Eberhart Tennstedt und seinen Bekannten auf einer Parkbank sitzend an. Das Trio schrie die augenscheinlich stark alkoholisierten Männer an, dass sie sich „verpissen“ sollten. Einer versuchte sie hochzuziehen, traf aber auf Gegenwehr. Schließlich kippte er die Parkbank um, sodass die beiden Männer rücklings auf den Boden stürzten. Dann entfernte sich das Trio, drohte aber noch, in zehn Minuten wiederzukommen und weiter Ärger zu machen.

Bei ihrer Rückkehr stiegen nur einer der 20-Jährigen und der 22-Jährige aus dem Auto aus. Eberhart Tennstedt und sein Bekannter waren inzwischen auf die gegenüberliegende Parkbank umgezogen, die nahe an der Bode stand. Die Angreifer kippten die Obdachlosen mitsamt der Bank erneut nach hinten um, wodurch Eberhart Tennstedt und sein Bekannter die Böschung zum Fluss hinunterstürzten. Die Angreifer kletterten ihnen hinterher und der 20-Jährige zog die wehrlosen Männer in die nur knietiefe, aber eiskalte Bode. Während sein Bekannter versuchte, durch das Wasser watend ans andere Ufer zu fliehen, blieb Eberhart Tennstedt regungslos stehen und hielt sich an einem Ast fest.

Das Duo ging kurz zum PKW zurück und kletterte dann erneut die Böschung hinunter, wo es Eberhart Tennstedt unverändert vorfand. Als die Angreifer vom gegenüberliegenden Ufer ein Geräusch hörten, gingen sie über die Stumpfsburger Brücke auf die andere Seite, wo der Bekannte Eberhart Tennstedts sich erschöpft hingesetzt hatte. Um ihn weiter einzuschüchtern zog der 20-Jährige ihn nochmals ins Wasser. Dann fuhr er mit dem 22-Jährigen zu sich nach Hause, holte eine Schreckschusspistole und kehrte zum Bodeufer zurück. Dort forderte er den wieder am Ufer sitzenden Mann mit vorgehaltener Waffe auf, sich einen anderen Schlafplatz zu suchen und schoss über dessen Kopf hinweg. Dann fuhren die beiden mit dem Auto wieder auf die andere Seite, wo Eberhart Tennstedt immer noch regungslos im Wasser stand. Der 20-Jährige gab wiederum einen Schuss über den Kopf des 43-Jährigen ab, wobei er ihn nochmal aufforderte zu verschwinden. Dann fuhren die Rechten nach Hause.

Am nächsten Morgen, gegen 7:30 Uhr, fanden Feuerwehrleute Eberhart Tennstedts Leiche etwas flussabwärts in der Bode. Ein Arzt stellt den Tod durch Ertrinken fest. Noch in der Tatnacht hatten zwei Zeug*innen die Polizei alarmiert, weil sie gesehen hatten, wie die Angreifer auf die Obdachlosen losgegangen waren.

 

Der Prozess gegen die Täter

In den polizeilichen Vernehmungen zeigten die Täter wenig Reue und erklärten, dass „Penner“ nicht ins Stadtbild passten. Im Dezember 1994 verurteilte das Landgericht Magdeburg den 20-jährigen Haupttäter wegen der „Aussetzung einer hilflosen Person“ und Körperverletzung mit Todesfolge zu einer dreijährigen Jugendstrafe auf Bewährung. Der Kioskbesitzer und die beiden Mittäter wurden zu Bewährungsstrafen zwischen neun Monaten und einem Jahr verurteilt.

Die Richter begründeten das Urteil u.a. mit „generalpräventiven Überlegungen“, da während des Prozesses deutlich geworden sei, dass Obdachlose auch von einer breiten Öffentlichkeit als „Menschen zweiter Klasse“ angesehen würden. Diese Einstellung hätte zu dieser „Machtdemonstration gegenüber Schwächeren“ geführt, mit der die Täter die Obdachlosen hätten „gewaltsam vertreiben“ wollen.

 

Öffentliches Gedenken

Als der Tod von Eberhart Tennstedt öffentlich bekannt wurde, versammelten sich am 8. Mai 1994 spontan rund 50 Menschen am Tatort zu einer Schweigeminute. Im September 1994 erinnerten rund 70 Teilnehmer*innen eines Schweigemarsches an das Schicksal von Eberhart Tennstedt, der von der Arbeiterwohlfahrt, dem Dachverein Reichenstraße e.V. und Antifaschist*innen aus Quedlinburg im Rahmen der bundesweiten „Nacht der Wohnungslosen“ organisiert wurde. Sie brachten auch eine Gedenktafel am Tatort an, die allerdings nach kurzer Zeit von Unbekannten entfernt6 und seitdem nicht wieder erneuert wurde.

Mit Start der Kampagne „Wir erinnern an alle Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“ der Mobilen Opferberatung im Mai 2014 übernahm der Dachverein Reichenstraße e.V. eine Patenschaft für das Gedenken an Eberhart Tennstedt. 20 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod erinnerten die Mobile Opferberatung und der Dachverein Reichenstraße e.V. im September 2014 mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Leben in der Wohnungslosigkeit – Ursachen, Alltagserfahrungen und Gewalt gegen wohnungslose Personen“ an Eberhart Tennstedt. Zwar fand hier auch ein Austausch über Möglichkeiten eines öffentlichen Gedenken an Eberhart Tennstedt vor Ort statt, eine konkrete Realisierung blieb jedoch bislang aus.

 

Eberhart Tennstedt wird von der Landesregierung nicht offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.